Henry und Heinz

I.

Rhein Control, Karlsruhe, Nachtdienst.

Boeing 727 Delta Airlines
Boeing 727 Delta Airlines

Nachtdienst in einer Radar­kontroll­stelle, offiziell Flug­sicherungs­leitstelle, gestaltet sich zuerst hektisch, dann über Stunden extrem langweilig und einschläfernd und dann zum Morgen hin wieder zunehmend hektisch. Von Dienstbeginn so kurz nach 2100 Uhr bis kurz nach Mitternacht ist Konzentration und Leistung angesagt. Ab da wird es so ruhig, dass man die Zeit irgendwie sinnvoll ausfüllen muss.

Heinz ist ein normaler Typ, Henry allerdings, einer der schrägsten Vögel die ich je kennengelernt habe, beschäftigte sich mit Begeisterung mit Bhuddismus, Esoterik, Fußreflexmassage, Akkupressur und Heilfasten. Nach zwei Wochen Vollfasten klappt er in der Straßenbahn zusammen und sagt zum Arzt im Krankenhaus: „Sorry, total loss of energy!“
Das ist Henry.

Heinz und Henry, sie bearbeiten den Westen des Zuständigkeitsbereiches von Rhein Control, haben sich also ein Schachspiel mitgebracht und es am Board aufgebaut. Die ersten Züge gelingen noch ungestört, doch dann meldet sich der Clipper 163, ein Flug von Wien nach New York.

Jeder Lotse erkennt geschwätzige Piloten sofort, niemand weiß wie, aber es ist so.

Henry mault: „Schon wieder so einer, der will quatschen.“
Heinz sagt: “Lass mich mal machen.“

Clipper: “Ist irgendeine Abkürzung in unserer Flugroute möglich?“
Heinz: „Da kümmern wir uns gerade drum, ich ruf zurück.“
Clipper: „Nachtdienst, ist bei euch viel los?“
Henry zu Heinz: „Du bist am Zug, der soll das Maul halten.“
Heinz: „Clipper 163, eine 747, stimmts?“
Clipper: „Ja, nagelneu.“
Heinz: „Fliegen sie Fracht, oder Passagiere?“
Clipper: „Passagiere.“
Henry zu Heinz: „Nu zieh schon, wir haben nicht ewig Zeit.“
Heinz zu Henry: „Gleich.“
Heinz: „Wie viele sind heute an Bord?“
Clipper: „265 Paxe.“
Heinz zum Clipper: „Und wie heißen die?“

Bis der Clipper die neue Frequenz von Maastricht erhielt, war absolute Ruhe und Heinz und Henry konnten sich ungestört dem Schachspiel widmen.

II.

Rhein Control, Karlsruhe.

Nattenheimsektor, Henry ist der Coordinator, Heinz der Radarlotse. Eine Rennstrecke im Nattenheinsektor ist der UB6, also der Upper Blue 6, eine Strecke die von Nattenheim im Westen des Sektors über Ramstein nach Karlsruhe und danach nach München oder Rattenberg führt. Richtung West fliegt die Sabena 125 in Flugfläche 350 von Zagreb nach Brüssel.

Bei Heinz meldet sich der Speedbird 66, Britisch Airways in Flugfläche 330 von London nach Dubai.

Speedbird 66: „Rhein Control, Good morning, Speedbird 66, Flightlevel 330.“
Heinz: „Speedbird 66 Radar Contact.”

Nach einer ganzen Weile zeigt Henry auf den Kontrollstreifen der Sabena. Henry hatte mit Maastricht eine niedrigere Flughöhe für die Sabena vereinbart, weil die ja in Brüssel landen wollte, diese neue Flughöhe hatte er auf dem Streifen aufgeschrieben und zeigte nun drauf. Heinz nickt kurz.

Heinz: „Sabena 125, descent to Flightlevel 280, expedite your descend.” (Sabena 125 sinken sie auf Flughöhe 280, beschleunigen sie ihren Sinkflug.)
Sabena 125: „Descending to Flightlevel 280, expediting, Sabena 125.“

Nun musste die Sabena durch die Flughöhe 330 des Speedbirds durchsinken, der genau auf sie zuflog. Wenn sie, wie angewiesen, sich beeilte, dann würde das auch gefahrlos klappen.

Aber, sie beeilte sich nicht und es wurde knapp.

Heinz: „Sabena 125 expedite your descend, rate 2500 ft or more, due to noise abatement.“ (Sabena 125 beeilen sie sich mit dem Sinkflug, mindestens 2500 ft pro Minute, wegen der Lärmvermeidung.)
Sabena: „Lärmvermeidung, wir sind über 6 Kilometer hoch, wie soll das gehen?“
Heinz: „Was meinen sie, was das für einen Lärm macht, wenn sie mit dem Speedbird zusammenstoßen?“

Die Sabena sank daraufhin wie ein Stein auf ihre neue Flughöhe.

Henry und Heinz

belle etage

Radarkontrolle Düsseldorf

Radarkontrolle
Radarkontrolle

Was kann man sich geruhsamer vorstellen, als einen Spätdienst an einem 31. Dezember in der Flugsicherungsleitstelle Düsseldorf, um halb drei Uhr nachmittags, eingeteilt beim FIS. FIS, das ist ein Arbeitsplatz mit Radar und einer Funkfrequenz und der Aussicht auf wenig Arbeit.

Der 31. Dezember ist sowieso ein „Totentag“, die Linienverbindungen sind stark reduziert und von den Privatpiloten ist auch kaum einer unterwegs.
So haben mein Freund Dave, ein Engländer, der bei der Flugsicherung als „Runner“ arbeitet, und ich unser Schachbrett aufgestellt.
Dave spricht noch eben die ATIS auf, so, jetzt ist erstmal 20 Minuten Ruhe.
Dave hat zwar dafür keine Zulassung, hört sich aber als gebürtiger Engländer richtig gut an.

Ja, kann man sich heute nicht mehr vorstellen, aber Anfang der 70er, zu Beginn meiner Zeit bei der Flugsicherung, war das noch so geruhsam.
Zu der Zeit hatte Düsseldorf so um die 12 Linienflüge am Tag, dazu noch zwei nächtliche Postflüge, alles Propellermaschinen. Für Insider, es waren Vickers Viscount, Super Connies, Elektras und andere Props.

Dave und ich schachten also, wir wollten bis um vier fertig sein, denn dann beginnt die erste Pause, bis halb sechs. Eigentlich war zu dieser Zeit die Flugsicherung ein geruhsamer Job, aber wie immer neigen die Deutschen dazu, Dinge unnötig zu komplizieren.

Radarkontrolle spielt sich in abgedunkelten, meist fensterlosen Räumen ab, die Zugangskontrollen sind streng.
Ab und an schaffte es eine Besuchergruppe sich Zugang zu verschaffen und wird dann als geführte Horde auf den Affenfelsen, einer Empore an der Stirnseite des Kontrollraumes geführt.
Besucher auf dem Affenfelsen hatten bei uns noch die britischen Kollegen, Soldaten zur Kontrolle der britischen Lufträume innerhalb des Düsseldorfer Kontrollgebiets, auf einer Seite des Kontrollraums an ihren Geräten zu bestaunen. Die Jungs hatten natürlich Uniformen an und sahen sehr adrett aus, was unsere „belle etage“ auf die grandiose Idee brachte, das gesamte Kontrollpersonal in Anzüge mit Schlips und Kragen stecken zu wollen. Es sähe für Besucher einfach besser und seriöser aus, argumentierten sie.
Nun ist das Kontrollpersonal, aufgrund der extrem harten Auswahl, der komplexen Ausbildung, der großen Verantwortung und nicht zuletzt wegen der daraus resultierenden Selbstsicherheit ein sehr eigenes Völkchen.
Daher lässt sich auch nachvollziehen, dass Betriebspersonal keine Debatten mit der „belle etage“ führt, sondern seinen Standpunkt durch Aktionen klarstellt.

So ergab es sich, dass heute alle Lotsen und Assistenten gekleidet waren wie im Karneval.
Dave hatte ein T-Shirt mit dem Abbild eines nackten Oberkörpers einer Frau an, ich trug ein Shirt mit aufgemaltem Anzug mit Schlips und Kragen.
Auch alle anderen Kollegen hatten Hütchen auf oder waren sonst wie auffällig gekleidet.

In den 70er Jahren war es noch üblich, dass der Leiter der Flugsicherung (LDF]), der oberste Verwalter zu besonderen Feiertagen persönlich erschien und allen sein schweißnasses Händchen drückte.
Wozu, das bleibt bis heute sein Geheimnis, wir konnten gut darauf verzichten, aber heute war die Gelegenheit für unseren Maskenball günstig, denn der LDF wurde erwartet.
Zu seinem Unglück hatte er heut’ zur Feier des Tages den Boss der Flughafengesellschaft und den Leiter der Lufthansa Düsseldorf dabei.
Die beiden sahen aus, als ob sie im falschen Film wären, der LDF war eigentlich nur rot im Gesicht, zugegeben sehr rot.
Er flüsterte jedem Einzelnen zu, „das werde noch unangenehme Konsequenzen haben“.
Das Händeschütteln hatte er allerdings komplett vergessen, so ersparte uns die Maskerade wenigstens das.
Natürlich wurde heftig gefeixt, Dave probierte sich im Bauchtanz und ich mimte einen Kellner.
Die Briten waren nur cool, die waren immer cool.
Wir stellten uns vor, wie der LDF den Gästen erklärte, dass das, was sie da gesehen hatten, nicht der Normalzustand in der Kontrolstelle war. Da wollten wir Mäuschen gewesen sein.

Das Ganze hatte natürlich keine Konsequenzen, aber leider nicht wegen der Maskerade, sondern weil für Berufskleidung kein Geld da war.

Der FIS – Arbeitsplatz war solange ein geruhsamer, bis die Privatpiloten merkten, da sitzt ja einer nur für uns. Also hatte ich alle Hände voll damit zu tun Speedy, einem Düsseldorfer Unterweltskönig, in seiner Bonanza zu Platz zu leiten. Dave meinte, eines Tages werden die uns noch bitten einen Tisch im Restaurant für sie zu buchen und Menüvorschläge zu machen.
Darüber machte ich mir keine Gedanken, denn ich musste ja sowieso hier sitzen. Speedy hatte es dann doch geschafft und rechtzeitig zur Ablösung den Platz erreicht.
Dave schlug vor zu sich nach Hause zum Kaffee zu fahren und kündigte uns schon bei seiner Frau an.

Die Engländer, eine kleine aber höchst kompakte Gruppe in Düsseldorf, feierten Silvester auf eine besondere Weise. Die Frauen bleiben zu Hause und die Männer ziehen von Haus zu Haus und wurden von den Frauen bewirtet. Wenn Mann dann nicht mehr weiterkonnte, blieb er einfach wo er war und machte sich später auf den Heimweg. Meist viel später.
Dave meinte ich sollte das mal mitmachen, wäre doch mal was anderes als die Partys, die ich sonst so zu Silvester feiere.
Das Problem dabei ist die Ungewissheit wo man dann, wegen Bewegungsunfähigkeit, endgültig landet.
Hat man dazu, so wie ich am nächsten Tag um neun wieder Dienst, berücksichtigt man weiterhin, 12 Meter (Stunden) vor dem Dienst keinen Alkohol mehr zu sich zu nehmen, da war mir die Sache doch viel zu gefährlich. Ich tendierte eher dazu, die Einladung von Peter anzunehmen und auf seine Fete in Bottrop zu gehen.
Zu meinem Glück traf ich beim Dave zuhause Claudia, die Freundin seiner Frau. Die hatte auch wenig Lust, sich den ganzen Abend von den unterschiedlich besoffenen Engländern anmachen zu lassen, denn, wie Daves Frau mir sagte, lief es immer darauf hinaus. Also verabredete ich mit ihr um sie nach dem Spätdienst mit nach Bottrop zu nehmen.
Der Spätdienst ging zu Ende, die Fete in Bottrop verlief sehr einseitig, claudialastig würde ich sagen, kurz, Claudia und ich waren zusammen.

Bei solchen Events wird die Zeit immer knapp und es reichte nur noch zum schnellen Frühstück im Bottropper Bahnhof. Dann der Dienst.
Dave sah wirklich nicht gut aus, aber es war ihm hoch anzurechnen, dass er den Dienst angetreten hatte und auch durchhielt, obwohl er weder gut zu Fuß noch sehr gesprächig war, an Schach war nicht zu denken.
Mir ging es körperlich auch nicht so gut, das wurde aber durch angenehme Gedanken an die Ereignisse wettgemacht.

Haus, Klo, Bett, Allohol, Weiber