Albtraum Vergessene Revision

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Es war irgendwann während meiner ersten Trainingsstunden im Bremen ACC, dem Strecken-Kontrollzentrum für den Unteren Luftraum über Norddeutschland. Ich hatte die theoretische Ausbildung zum Fluglotsen an der Flugsicherungsschule in München abgeschlossen und bestanden, zu jener Zeit war die Flugsicherungsschule noch am alten Flughafen Riem in München. Dort mussten alle neuen Aspiranten für die Flugsicherungsberufe viel Theorie in sich hineinstopfen: Grundlagen der Flugsicherung, Gesetzeskunde, Grundlagen der Navigation, Wetterkunde, Luftfahrtkunde, Staffelungsverfahren und vieles mehr.

Nach all dieser Theorie wurden wir zur praktischen Ausbildung an verschiedene Kontrollstellen verteilt, in meinem Fall nun Bremen ACC. Hier wurde ich in eines der Schichtteams gesteckt und 2 Kollegen zugeteilt, meinen „Coaches“. Die beiden würden mich nun an den diversen Kontroll-Arbeitsplätzen ausbilden, sie waren verantwortlich für alles, was ich tun würde und sie mussten eingreifen, wenn Dinge aus dem Ruder laufen sollten.

In Bremen musste man zuerst die Ausbildung auf den „Coordinator“ Plätzen absolvieren. Das Training war beendet, wenn man eine praktische Überprüfung, den sogenannten „Check Out“ ohne Fehler bestanden hatte, dann bekam man seine Arbeitsplatz-Zulassungen oder Lizenzen für die bestandenen Kontrollpositionen und konnte eigenverantwortlich, ohne weitere Beaufsichtigung, dort arbeiten. Das Radar-Training auf den Radar-Arbeitsplätzen würde folgen, aber das war noch in weiter Ferne.

Jetzt erst einmal musste ich lernen, was die Arbeit auf dem „Coordinator“ ausmacht: Alle relevanten Daten für jeden Flieger, der in dem eigenen Sektor kontrolliert wurde, mit dem „Nächsten“, also dem nächsten Sektor oder Kontrollstelle, in den/die der Flieger von unserem Sektor aus einfliegen würde, absprechen, oder entsprechende Informationen oder Daten von den „Vorigen“ Sektoren oder Kontrollstellen entgegennehmen, von denen wir Flieger erwarteten. Wenn sich Änderungen an den koordinierten Daten und Informationen ergeben würden, wie andere Flughöhen, Veränderungen an der erwarteten Überflugzeit über einem Navigationspunkt, Abweichungen von der vorgesehenen Flugroute, mussten diese Änderungen natürlich auch ausgetauscht werden. Diese Änderungen wurden „Revision“ genannt, und ich lernte bald, wie wichtig eine Revision sein kann.

Ich trainierte auf einem der Ost-Sektoren von Bremen ACC. Er umfasste einen Luftraum nördlich von Hannover bis hinauf nach Hamburg. Angrenzend an diesen Sektor waren andere Kontrollsektoren von Bremen ACC im Süden, Westen und Norden. Unter diesem Luftraum waren die Anfluggebiete von den Flughäfen Hannover und Hamburg, darüber der obere Luftraum, der von Maastricht UAC kontrolliert wurde. Im Osten lag die Grenze zur damaligen DDR, eine Grenze die niemand und kein Luftfahrzeug überqueren durfte. Einzige Ausnahme von dieser Regel waren die 3 Korridore nach Berlin. Von denen kontrollierten wir in unserem Sektor den Einflugpunkt in den nördlichen Korridor. Dieser Einflugpunkt war BKD (Brünkendorf) VOR.

Der Koordinationspartner für den nördlichen Korridor war Air Safety Center in West-Berlin, eine gemeinsame Kontrollzentrale, die von den Alliierten betrieben wurde. Mit ihnen mussten wir natürlich auch alle Koordinations-Prozeduren befolgen, so wie mit allen anderen. In den Korridoren durften Flieger nur bis zu einer Höhe von 10 000 Fuss operieren. Im nördlichen Korridor war es die Praxis, dass in östliche Richtung ungerade Flughöhen plus 500 Fuss geflogen wurde, in westliche Richtung dann gerade Flughöhen plus 500 Fuss. So würde ein Flug aus Berlin in unseren Sektor in FL 85 (8500 Fuss) oder in FL 65 (6500 Fuss) einfliegen, tiefere Höhen kamen im Nord-Korridor so gut wie gar nicht vor.

Wir erwarteten eine Pan Am 727 (Rufzeichen Clipper) aus Berlin auf ihrem Flug nach Hamburg, sie war angekündigt über BKD zu irgend einer Zeit in FL 85. Wie mit jedem Partner auch, würde sich etwas an dieser Ankündigung ändern, würden wir eine Revision von Air Safety Center erhalten.

Zur gleichen Zeit wurde über Lüneburg Fallschirmspringen geübt. Das war ein paar Meilen nordwestlich von BKD. Dort sprangen Schüler, die das Abspringen lernen sollten, aus kleineren Fliegern heraus, wobei sich ihre Schirme automatisch öffneten, wenn sie den Flieger verließen. Diese Flieger brauchten eine Freigabe von Bremen ACC, um ihre Springer abzusetzen, und diese Freigabe bekamen sie von unserem Sektor. Und der Mensch, der diese Freigabe erteilen musste, war – ich!

Es hatte sich eingebürgert, diesen Fallschirm-Zirkus „Deppenwerfen“ zu nennen! Als der Flughafen Lüneburg an meinem Platz anrief und wissen wollte, ob ihr Flieger die Springer absetzen dürfe, war ich nicht sicher was ich nun tun sollte. Mein Coach war geduldig: „ … jetzt schau dir mal die Lage an. Haben wir irgendeinen Traffic, der mit den Springern in Konflikt steht? – Nein! Und aus welcher Höhe wollen die ihre Springer absetzen? – FL 70. Und in welcher Höhe kommt der Clipper? – FL 85. Also???? Sag denen, sie können ihre Deppen rausschmeißen!“ So gab ich halt die Freigabe.

Wir konnten die Absetz-Maschine auf unserem Radar sehen und wir sahen auch den Clipper, wie er sich BKD näherte, aber wir sahen nur ein Symbol von ihm, da es zu jener Zeit noch keinen Austausch von Transponder-Codes gab. Wenn er auf unserer Welle auftauchte, würden wir ihm einen von unseren Codes geben und damit würde er dann mit Rufzeichen und Höhe auf unserem Schirm erscheinen, also positiv identifiziert werden. Das Flugzeug aus Lüneburg war mit Rufzeichen und stabiler Höhe FL 70 auf dem Schirm dargestellt.

Dann wurde die Funkfrequenz lebendig und eine unwirsche Stimme rief „Bremen, this is Clipper 123 at FL 65 – – What the hell is all that crap in front of my windschield?!“ (Bremen, hier ist Clipper 123, was zum Teufel ist dieses Zeug vor meiner Windschutzscheibe) – Unser Herzschlag setzte aus!

Was war passiert? Offensichtlich kam der Clipper in einer anderen Höhe, als wir ihn erwarteten. Und die armen Sprungschüler, nachdem sie aus ihrem Flieger geschmissen worden waren und unter ihren automatisch aufgegangen Schirmen hingen, sahen sich plötzlich mit diesem Monster einer 727 konfrontiert, welche durch die Wolke der Fallschirme bürstete! Die armen Kerle haben wohl buchstäblich versucht, an ihren Fäden hochzuklettern!

Plötzlich wurde um uns herum nur noch gebrüllt. Mein Coach brüllte, die Nachbarsektoren brüllten, der Wachleiter brüllte, der Clipper-Captain brüllte auf der Welle, das Telefon klingelte hektisch und als ich ranging – brüllte da auch einer! Aber nach ein paar Minuten stellte sich heraus, keiner kam zu Schaden, außer ein erhöhter Adrenalinspiegel bei der Crew der 727, den Sprungschülern, meinem Coach und mir. Puh!

Nachdem sich alles beruhigt hatte, wurde ermittelt. Was war passiert? Es lief darauf hinaus, dass Air Safety Center in Berlin – eine Revision vergessen hatte! Offenbar hatte der Clipper eine Höhenänderung durchgeführt. Möglicherweise hatte es im Korridor in FL 85 gewackelt, und er hatte bei Berlin einen Sinkflug nach FL 65 beantragt und bekommen, dieses war von Berlin aber nicht weitergegeben worden. Schließlich meinte mein Coach: „Siehst du wie wichtig eine richtige Revision ist!“ Das habe ich mir gemerkt …

Deppenwerfen
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